Text: Olga Silantiewa
Russische und deutsche Märchen ähneln sich, weil alle Völker in ihren Märchen die wichtigsten Themen behandeln. Da aber die Märchen Bestandteile der Kulturen der Völker sind, zum Beispiel von Deutschland und Russland, widerspiegeln sie die eigenartigen Unterschiede dieser Völker in ihren Sitten und Bräuchen, ihrer Lebensweise und der Charaktereigenschaften. Hier ein paar Beispiele.
Baba Jaga und die Hexe
Die Baba Jaga oder auch Kostjanaja Noga (das Knochenbein) aus den russischen Märchen lebt in ihrer „hühnerbeinigen“ Hütte im Wald. Eigentlich ist sie böse. Aber in vielen Märchen hilft sie dem Helden – sie gibt ihm etwas zu essen und erlaubt ihm, bei ihr zu übernachten.
In den deutschen Märchen ist die Hexe auch alt, hässlich und böse. Aber im Vergleich zu ihrer russischen „Kollegin“ bleibt sie böse. Ihr Häuschen kann schön sein, „aus Brot gebaut und mit Kuchen gedeckt“. Ordnung ist wichtig – das gilt auch für die deutsche Hexe. Ihr Lieblingsessen sind Kinder, aber eigentlich ist sie im Märchen dafür da, um Kinder zu erziehen. Was erfahren die Leser, wenn sie „Hänsel und Gretel“ lesen? Ja, richtig: Kinder dürfen nicht in den Wald, sie dürfen keine fremde Frau ansprechen und so weiter.
Frau Holle und Moros
Eng verwandt mit der Hexe ist Frau Holle. Sie hat große und schiefe Zähne und wenn sie Kissen ausschüttelt, schneit es. Auch holt sie die Kinder, glauben die Deutschen. Der Legende nach prüft Frau Holle zwischen dem 23. Dezember und dem 5. Januar, wer das Jahr über fleißig war. Gehorsame Kinder werden reich belohnt. Faulenzer werden von ihr zur Strafe geholt.
In der russischen Variante des Märchens von „Frau Holle“ kommen ein fleißiges Mädchen und ihre faule Stiefschwester zu dem guten alten Mann namens Morosko (Moros). Genau wie Frau Holle symbolisiert er den Winter und handelt gerecht. Er belohnt das fleißige Mädchen und bestraft das faule.
Iwan Durak und Hans Dumm
Iwan Durak kommt in russischen Märchen oft vor. In der Regel ist er der dritte Sohn in der Familie. Durch seine Gescheitheit findet er immer Lösungen aus den Situationen, in die er auf seinem Lebensweg gerät und gewinnt die Zarentochter zur Belohnung. Er sucht und findet immer diejenigen, die seine Hilfe brauchen.
In den deutschen Märchen ist Hans dumm und bleibt auch so. Die Dummheit wird ausgelacht und bestraft. Der Fleiß (der dumme Hans kann auch fleißig sein, wie im Märchen „Hans im Glück“) wird aber gelobt. In vielen Märchen der Brüder Grimm ist der Held auf der Suche nach dem Glück und findet seinen Platz im Leben durch seinen Fleiß.
Text: Olga Silantiewa
Märchen sind sehr alt. Sie sind viel älter als die Russlanddeutsche – denn deren Geschichte beginnt erst in den 1760er Jahren. Die Märchen sind sogar viel, viel älter als die Deutschen. Denn ihre Geschichte fängt im frühen Mittelalter an. Die alten Germanen, also die verschiedenen Stämme, die in der Antike auf dem Territorium des heutigen Mitteleuropas lebten, kannten schon viele Märchen. Stell dir vor: So alt sind diese Texte, die von wunderbaren Ereignissen erzählen.
Im 18. und 19. Jahrhundert fing man an, Märchen zu sammeln und aufzuschreiben. Die Brüder Grimm waren unter den Ersten, die Märchen gesammelt und von 1812 bis 1858 herausgegeben haben. Dafür sprachen sie mit Menschen, die solche Geschichten über Hexen und Magie, Tiere und Könige erzählen konnten. Die Deutschen, die Ende des 18. Jahrhunderts nach Russland kamen, kannten also noch keine deutschen Märchen, so wie wir sie heute kennen. Höchstwahrscheinlich haben sie die Märchen der Brüder Grimm erst hier in Russland gelesen. Deswegen haben die Russlanddeutschen keine „eigenen“ Volksmärchen.
Dafür gibt es Kunstmärchen, die von russlanddeutschen Schriftstellern geschrieben wurden. Zum Beispiel das „Märchen vom Hefeteig“ und „Das Sterntöpfchen“ der Kinderbuchautorin Nadja Runde aus Bayern (geb. 1971), „Spiegelzauber. Ein Märchen für alle, deren Seelen Rosen ohne Dornen sind“ der Moskauer Dichterin Elena Seifert (geb. 1973) und das Tiermärchen „Der Pfeilvogel“ von Alexander Weiz aus Nordrhein-Westfalen (geb. 1960). Leider kann man diese Märchen nicht in jeder Buchhandlung kaufen.
Was du aber im Internet findest, sind „Erikas Blumenmärchen“ von Nelly Wacker (1919–2006). Jedes Märchen in der Sammlung dieser russlanddeutschen Schriftstellerin ist eine Geschichte über eine Blume. Warum heißt die Narzisse – Narzisse, die Georgine – Georgine? Stiefmütterchen, Löwenmaul – steckt in jedem Namen vielleicht ein Rätsel? Einige Blumen plaudern ihre Geschichten der kleinen Erika aus, weil sie ja auch einen Blumennamen trägt. Einige „Blumenmärchen“ wurden im Rahmen des Wettbewerbs „Freunde der deutschen Sprache“ ins Russische übersetzt. Diese Übersetzungen wurden 2019 im Katalog des 7. Wettbewerbs veröffentlicht. Viel Spaß beim Lesen!
Text: Wilhelm Kropp
Fast jeder hat schon von den Märchen der Brüder Grimm gehört. Jacob und Wilhelm Grimm lebten im 19. Jahrhundert und sammelten Märchen und Sagen. Viele Märchen haben sie von den Menschen in der näheren Umgebung von Kassel und Göttingen gehört und aufgeschrieben.
Im Andenken an die Brüder Grimm und ihre Arbeit ist vor einiger Zeit eine besondere Straße geschaffen worden. Sie heißt Deutsche Märchenstraße. Die Route beginnt in Hanau in der Nähe von Frankfurt am Main, dem Geburtsort der Brüder Grimm, und endet in Bremen, wohin die Bremer Stadtmusikanten wollten.
Neben Hanau zählen die Städte Steinau, Kassel, Göttingen und Witzenhausen zu den Lebensstationen der Brüder Grimm. In Kassel ist ihnen zu Ehren ein großes, ganz modernes Museum mit dem Namen „Grimms Welt“ gebaut worden.
An der Märchenstraße liegen auch die Orte, wo sie die Märchen gehört haben. Als erstes bietet sich die Stadt Schwalmtal an. Sie liegt inmitten von Wäldern und Bergen. Die Bürger halten es für möglich, dass hier in uralter Zeit das Märchen von Rotkäppchen und dem Wolf entstanden ist. Daher heißt diese Gegend „Rotkäppchenland“.
Wenn man den Berg Hoher Meißner in der Nähe des Städtchens Hessisch Lichtenau besucht, kommt man in das Herrschaftsgebiet der Frau Holle. Denn auf dem Berg soll sie gewohnt und ihre Betten ausgeschüttelt haben.
Unbedingt gehört noch ein Besuch des Reinhardswalds zur Märchentour. Hier befindet sich die Burgruine Sababurg. Dort soll das Märchen von Dornröschen seinen Ursprung haben.
Ein Ausflug nach Niedenstein lohnt sich ebenfalls. Hier soll das Märchen vom König Drosselbart gespielt haben. Auf unserem Weg in Richtung Bremen kann man im Städtchen Trendelburg noch den Burgturm besichtigen, in dem Rapunzel durch eine böse Hexe eingesperrt worden sein soll.
Schließlich erreicht man Bremen. Wie schon für die Bremer Stadtmusikanten ist die Stadt Bremen der Endpunkt der Märchenroute.